Wer sich mit Wandel und Neuerungen in der Arbeitswelt beschäftigt, kommt an dem Paradigmenwechsel in Punkto Führung nicht vorbei. Seit einiger Zeit erleben wir das Aufbrechen der Struktur, die wir im letzten Arbeiter-Jahrhundert gewöhnt waren. Es geht weg von Kontrolle und Kommando hin zu Freiraum und Mitgestaltung. Welche Überlegungen stecken hinter diesem Wandel? Warum wir ihn gerade jetzt erleben und welches Potenzial den veränderten Führungsansätzen zugesprochen wird, diskutieren wir mit Marvin von der SVG GARAGE. Als Senior Innovation Manager und Agile Coach sind Neuerungen, Methodik und ‚New Work‘ sein tägliches Brot.
SVG GARAGE: Marvin, Du hast gerade zahlreiche Weiterbildungen durchlaufen, die sich alle um das Thema neue Arbeit, Innovation und Führung drehen. Eine Wichtige davon war im Bereich „Leadership“. Was gab den Ausschlag, dass Du Dich dabei genau mit dem Thema der neuen Führungsansätze im Umfeld von kleinen und mittleren Unternehmen und deren Beitrag zu ihrer Wettbewerbsfähigkeit beschäftigt hast?
Marvin Nestler: „Die Corona-Krise sorgt bei zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) dafür, dass bestehende Arbeitsprozesse, Geschäftsmodelle, Leistungsportfolios sowie der Einsatz digitaler Technologien auf den Prüfstand kommen. Das hat zur Folge, dass Themen wie die digitale Transformation und New Work an Geschwindigkeit gewinnen. Für sie ist die Krise sozusagen zu einem Katalysator geworden. Viele von uns erleben das gerade in der Praxis: Führen über Kontrolle und Kommandos wird häufig von flexiblen Arbeitsmodellen abgelöst. Die Entwicklung geht dahin, dass Mitarbeiter Eigenverantwortung übernehmen sollen.
Diesen Wandel erleben wir als SVG Süd übrigens gerade am eigenen Beispiel: Bei uns ändert sich die Art der Arbeit und damit die Art der Führung. Losgelöst davon stehen wir als Genossenschaft für einen Kundenstamm, der aus kleinen und mittelständischen Unternehmen besteht.
Wenn diese neuen Führungsansätze also dauerhaft in KMU etabliert werden und zum Erfolg von Unternehmen beitragen sollen, braucht es meiner Meinung nach eine Analyse der Umsetzbarkeit dafür, und damit einhergehend eine intensive Betrachtung dieser neuen Ansätze.“
SVG GARAGE: Bevor wir tiefer in diese neuen Führungsansätze einsteigen: Magst Du erläutern, wie Du Führung definierst?
Marvin Nestler: „Führung ist ein unglaublich komplexer und dynamischer Begriff. In der Wissenschaft wird er seit dem zwanzigsten Jahrhundert intensiv erforscht und selbst in der Praxis wird er unterschiedlich gelebt. Eine einheitliche Definition ist daher schwer zu finden.
Wenn ich über die wichtigsten Tätigkeiten von Führungskräften sprechen soll, gehört für mich vor allem dazu, Fähigkeiten und Begabungen der Mitarbeitenden zu identifizieren und mit den vorliegenden Anforderungen und Gegebenheiten zu kombinieren. Aufbauend darauf ist natürlich die Förderung dieser besonderen Begabungen oder die Entwicklung von fehlenden Kompetenzen ausschlaggebend. Außerdem sind Führungskräfte in meinen Augen dafür verantwortlich, Mitarbeiter hinter der Firmenvision und Mission zu sammeln und ihrer Arbeit einen Sinn bzw. eine Richtung zu geben. Das darf nicht nur geschehen, indem man einen tollen Satz entwirft und ihn immerzu wiederholt. Man muss Vision und Mission mit Werten und Überzeugung füllen und sie im eigenen Handeln vorleben.“
SVG GARAGE: In deiner Ausführung sind schon einige Anforderungen an Führungskräfte versteckt. Was erwartet man also heutzutage von Führungskräften?
Marvin Nestler: „Führungskräfte müssen Allround-Talente sein mit dem Ziel, ihre Mitarbeiter zu befähigen und sie eng an die Unternehmung zu binden. Wichtige Schlagworte sind in diesem Zusammenhang eine vertrauensvolle Zusammenarbeitsumgebung, Mitarbeiterbindung und Arbeitszufriedenheit, das Vorleben von Werten und das Vorantreiben von Innovationen.
Die meiner Meinung nach wichtigste Anforderung in dieser Zeit liegt aber darin, Mitarbeiter beim stetigen Veränderungsprozess, den viele Unternehmen und seine Belegschaft gerade durchlaufen, zu begleiten und eine neue Arbeitskultur zu fördern. Führungskräften wird also – genau wie den Mitarbeitern – eine große Veränderung abverlangt. Im Grunde sieht man recht gut, dass ihre Aufgabe weg geht von Kontrolle und Kommando hin zu Freiraum und Mitgestaltung. Aber um ehrlich zu sein: Da muss jeder erst mal seinen Weg gehen. Auch wir in der SVG Süd beschäftigen uns seit der Pandemie stark mit diesem Thema.“
Wissenschaftlich betrachtet sind neue Führungsansätze ein Instrument, um mehr Mitgestaltung und Freiraum zu ermöglichen.
SVG GARAGE: Was erhofft man sich von diesen neuen Führungsansätzen?
Marvin Nestler: „Im Wesentlichen möchte man die Mitarbeitenden befähigen, integrieren und sie den Unternehmensalltag aktiv mitgestalten lassen. Durch den Wandel von strikter Führungskontrolle hin zur selbstständigen Arbeitsorganisation werden Perspektiven aufgezeigt, die früher oft nicht da waren. Ich nehme mal das Beispiel eines kleineren Projektes. Früher hat die Führungskraft das Ziel, das Vorgehen und die Teilnehmer darin bestimmt. Heute übernimmt das Projektteam das Ruder. Sie erarbeiten ein gemeinsames Verständnis für das Ziel und bestimmen das Vorgehen. Auf diese Weise fördert man die Feedback- und Fehlerkultur im Unternehmen, stiftet Sinn für alle Mitarbeitenden des Projekts und befähigt sie, aktiv mitzuwirken. Dadurch entstehen grundlegend mehr und andere Ideen als mit einer streng hierarchischen Führung. Ob das immer einfach umsetzbar ist, sei hier mal dahingestellt 😉. Vor allem aber baut man mit dieser Art der Führung Brücken. Brücken zwischen Gräben des Vertrauens und der Selbstverwirklichung.
Und letztendlich zahlen diese Werte alle auf eines ein: Die Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Firma, die sich angelehnt an die neuen Führungsansätze natürlich positiv entwickeln soll.“
Über die Umsetzbarkeit dieser neuen Führungsansätze und die Chance, sie zu etablieren sprechen wir in einem zweiten Gespräch mit Marvin. Seid gespannt auf das Interview!